Band 3 "Dialog leben" zur Bedeutung der Religionen heute
Welche Bedeutung haben die Religionen heute und welche Rolle werden sie in Zukunft spielen? Vor allem, braucht unsere moderne Gesellschaft noch Religion(en) oder sind Religion(en) gar eine Gefahr? Gerade in Zeiten von Migration, Integration und Terrorismus ist das Thema Religion wieder in aller Munde. Besonders die Fragen, welche Herausforderung der Islam für unsere Gesellschaft darstellt und welche Bedeutung das etablierte Christentum für unsere westeuropäische Kultur (noch) besitzt, bewegt die Gemüter. Diese drängenden Fragen stehen im Mittelpunkt des neuen Bandes, der von der Katholischen Hochschulgemeinde Gießen (KHG) jetzt im Gießener Psychosozial-Verlag erschienen ist. Die Herausgeber Hochschulpfarrer Dr. Siegfried Karl und Hans-Georg Burger verstehen das Buch auch als Appell, über den Status und die Rolle von Religion in unserer Gesellschaft neu nachzudenken. Das Buch ist der überarbeitete und um aktuelle Beiträge ergänzte Band vom letztjährigen Symposium der KHG über „Religion(en) im 21. Jahrhundert – Zwischen Tradition und Zukunft.“
Bis vor wenigen Jahren lautete eine weitverbreitete These, dass Religion und Kirche im 21. Jahrhundert keine Zukunft mehr hätten. Doch viele Autoren in dem Buch zeigen auf, dass Religion in unserer Gesellschaft nicht verschwunden ist. Im Gegenteil, im 21. Jahrhundert komme es auf Religion sehr wohl an, so die Zeitdiagnose des deutsch-französischen Soziologen und Professors für postmodernes Denken in Paris Michael Hochschild. Für ihn ist „Religion heute sprichwörtlich in Bewegung geraten“ und durch die Migration entstehe eine neue Landkarte der Religionen. Die Herausgeber Pfarrer Dr. Karl und Hans-Georg Burger sowie der evangelische Pfarrer und Geschäftsführer des Rates der Religionen im Kreis Gießen Bernd Apel plädieren abschließend für mehr religiöse Bildung und Wissen über die Religionen. Sie sehen in religiöser Bildung „das Rezept Nummer eins gegen Fundamentalismus“.
Angesichts der aktuellen Debatten erhalten einige Beiträge besondere Aufmerksamkeit. Dazu gehören die grundsätzlichen Ausführungen von Bundestagspräsident Prof. Norbert Lammert und seines Vorgängers Dr. Wolfgang Thierse zum Verhältnis von Religion, Kirche, Staat und Politik. Für Thierse darf Religion nicht nur Privatsache bleiben, vielmehr sei der Staat auf Religion und religiöse Menschen angewiesen und Religionsfreiheit ist ein fundamentales Freiheitsrecht. Ähnlich sieht es auch Lammert. Trotz der in der Verfassung festgesetzten Trennung von Religion und Politik könne und dürfe der Staat auf religiöse Bezüge nicht verzichten. Das Verhältnis zwischen Kirchen und politischen Institutionen ist in seinen Augen bei uns derzeit nicht wirklich gestört, allerdings funktioniere die Kommunikation zwischen Politik und Kirche nicht immer reibungslos. Lammert plädiert in Sachen Religion, Kirche und Politik für eine sorgfältige Trennung und zugleich für eine intelligente Verbindung von Politik und Religion, von Glauben und Handeln.
In den aktuellen Debatten stehen die Themen Islam, Religion und Gewalt sowie der christlich-islamische Dialog besonders im Fokus. Mit diesen Fragen setzen sich im vorliegenden Buch namhafte Autoren auseinander. Das vielschichtige Verhältnis von Christentum, Islam und Aufklärung wird von Dirk Ansorge, Professor für Dogmatik und Prorektor der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main, in einem lesenswerten Beitrag analysiert. Er weist anhand der geschichtlichen Entwicklung darauf hin, dass sich der Begriff „Aufklärung“ nicht als Maßstab für die „Modernefähigkeit“ einer Religion eigne. Auch widerspreche die Unterstellung, der Islam habe noch keine Aufklärung durchlaufen, der historischen Realität. Vor allem habe entgegen heutiger Wahrnehmung der Islam vielen Aufklärern im 17. und 18. Jahrhundert als eine Religion gegolten, die den Anforderungen der Vernunft eher entspreche als das Christentum.
Zu den Themen, die auch in Deutschland als gewichtig bewertet werden, gehört der Dialog mit dem Islam. Welcher Islam passt zu unserer Gesellschaft? Zur Nagelprobe wird die Frage, wie der Islam zu den grundlegenden Werten unserer modernen Gesellschaft steht. Mit diesen kontroversen Themen befassen sich mehrere Autoren. Für die renommierte Islamkennerin Prof. Susanne Schröter von der Universität Frankfurt gehört der Islam wie das Christentum und das Judentum zu Deutschland, allerdings könne nicht jede Art des Islam als demokratie-kompatibel verstanden werden und passe in unsere Gesellschaft. In einem Interview weist sie in dem Buch auf Fehlentwicklungen und Herausforderungen in Deutschland hin. Unter anderem müsse die Politik einen breiten Querschnitt der Muslime in Deutschland als Gesprächspartner berücksichtigen und nicht nur Verbandsvertreter. Zu den Grundwerten des Moslemseins gehört für Dr. Diaa Rashid, dem Vorsitzenden der Islamischen Gemeinde in Gießen, „der Respekt des Anderseins“. Gewalt und Attentate stehen für ihn daher klar im Widerspruch zu den islamischen Werten.
Neue Chancen für den christlich-islamischen Dialog sieht Yaşar Sarıkaya, Professor für Islamische Theologie an der Universität Gießen. Erforderlich sei dafür ein Neudenken, dadurch würden sowohl die christliche als auch die islamische Theologie in Europa eine neue Dynamik gewinnen. Zu den neuen Wegen gehören die Einführung des islamischen Religionsunterrichts und die Integration des Islams in die universitäre Landschaft in Deutschland und in Europa. Die Entwicklungen an vielen unserer Schulen und Hochschulen bezeichnet er als hoffnungsvoll. So auch, dass an immer mehr Schulen christliche und muslimische Schüler den Dialog leben könnten.
Ist Religion gewaltfördernd und gar Anstifter für Morde und Terrorismus? Vor allem das Verhältnis des Islam zur Gewalt steht im Blickpunkt. Mit dem Katholischen Militärbischof und Bischof von Essen, Dr. Franz-Josef Overbeck, und dem evangelischen Theologen und Münchner emeritierten Professor für Systematische Theologie und Ethik, Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Graf, beleuchten zwei renommierte Theologen und Kenner die anstehenden Fragen. Wie Bischof Dr. Overbeck festhält, gehe es bei gewaltsamen Auseinandersetzungen in erster Linie nicht um religiös begründete Gewalt, sondern um solche, die religiös gerechtfertigt werde. Die größte Gefahr für unsere Zeit sieht Bischof Dr. Overbeck in der Instrumentalisierung der Gottesmacht bei der Durchsetzung politischer oder anderer nichtreligiöser Ziele. Religiöse Akteure sollten in der Friedensbildung und Friedenskonsolidierung eine gewichtige Rolle spielen, denn für ihn steckt in den Religionen auch ein Friedenspotenzial.
Aufschlussreich ist auch, wie junge christliche Studierende über die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts denken. Stellvertretend dafür steht der Aufsatz von Sarah Larissa Schneemann, Philosophiestudentin und engagiertes Mitglied der KHG Gießen. Ihre Ausführungen machen deutlich, dass für junge Christen in den gegenwärtig unsicheren Zeiten Ethik und Verantwortung obenan stehe. Diese Orientierung fordern sie auch von den Eliten in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Die Veränderungen in der Gesellschaft und die rasanten technische Fortschritte spiegeln sich in besonderem Masse an unseren Hochschulen. Religion dürfe an den Hochschulen keineswegs ausgeblendet werden, so die Folgerung der Hochschulseelsorgerin Sigrid Monnheimer von der KHG Gießen. In ihrer praktischen Seelsorgearbeit registriere sie eine steigende Nachfrage nach religiösen Lebensräumen und nach interreligiösem und interkulturellem Austausch an den Hochschulen.
Das 236 Seiten starke und inhaltlich hochaktuelle Buch ist zum Preis von 27,90 € im Buchhandel oder online beim Psychosozial-Verlag zu erhalten (www.psychosozial-verlag.de).
Bibliographische Angaben zum Buch:
Siegfried Karl, Hans-Georg Burger (Hrsg.): Religion(en) im 21. Jahrhundert - Zwischen Tradition und Zukunft. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2016, 236 Seiten, (Buchreihe: Dialog leben), 27,90 EURO.
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